Im Oktober 2017 wurde die Handels- und Industriekammer der Russischen Föderation (HIK Russland) 100 Jahre alt. Dabei begann die eigentliche Vorgeschichte der größten und ältesten russischen Unternehmensvereinigung schon viel früher.  Mehr über die historischen Ursprünge und den Beitrag der Kammer für die Entwicklung des Unternehmertums in der freien Marktwirtschaft erfahren Sie im Interview mit dem Präsidenten der HIK Russland Sergey Katyrin.

– Jede Organisation, vor allem mit einer Geschichte wie die der Handels- und Industriekammer, verfügt über eigene Symbolik. Welche Bedeutung hat der so genannte Hermesstab?

Der Hermesstab ist ein goldener Stab, umwoben von Schlangen, deren Köpfe einander anschauen. Hermes bekam diesen Stab von Apollo. Auf der Spitze ist der goldene Helm von Hades mit kleinen Flügeln zu sehen. Der Legende nach hat ausgerechnet der Totengott Hades dem Handelsgott Hermes den Helm geschenkt, damit dieser einen Angriff der Titanen auf dem Olymp abwehren konnte.

Der Hermesstab hatte eine magische Wirkung – er half den Streitparteien sich zu einigen. Eines Tages warf der Hermes den Stock mitten in den Schlangenknäuel. Die Reptilien hörten sofort mit dem Kämpfen auf, schmiegten sich an Zweig heran und schauten versöhnlich einander an. So entstand der berühmte Hermesstab – das Symbol der einvernehmlichen Versöhnung.

Vor der Oktoberrevolution 1917 schmückte der Hermesstab einige adelige Familienwappen sowie die Wappen mehrerer Städte und Gebiete in Russland. Heutzutage ist der Stab auf dem Wappen des nationalen Russischen Zolldienstes zu sehen und ist außerdem das offizielle Symbol der Handels- und Industriekammer der Russischen Föderation.

Das Symbol der HIK Russland, der Stab des römischen Gottes Hermes, der ursprünglich zur Streitbeilegung und Versöhnung mit den Feinden gedacht war, wird im heutigen Kontext als ein Zeichen für die Versöhnung der Parteien bei einem Handelsstreit und die Suche nach Kompromisslösungen beim internationalen Handel interpretiert. Heutzutage symbolisiert es faires Wettbewerb, gute Geschäftsbeziehungen und hohe Qualität von Produkten und Dienstleistungen.

 – Womit beginnt denn die Geschichte der russischen Handels- und Industriekammer?

Der erste staatlich initiierte Versuch eine Vereinigung der russischen Kaufleute und Industrieller zu gründen, wurde in Februar 1727 unternommen. Viele russische Geschäftsleute, überwiegend unsere Mitglieder, behaupten, dass es sich hierbei um einen Erlass der Zarin Katharina der Ersten handelt. Dieses offizielle Dokument verordnete – Zitat – „einer gewissen Anzahl der Industrieller …wenigstens einmal im Winter nach Moskau zu einer Ratssitzung zu kommen, und wenn es über wichtige Angelegenheiten berichtet werden soll, dann bei dem Handelskollegium“.
Leider ist dieser fast 300 Jahre alte Erlass nur auf dem Papier geblieben. Damals wurde lediglich eine Beschwerdestelle für die Fabrikanten geschaffen.
Eigentlich haben sich die Kaufleute und die Handwerker im alten Russland schon früher zur Ausarbeitung gemeinsamer Handelsregeln und Interessenvertretung zusammengeschlossen. Beispielsweise wurde bei den Handelsgeschäften immer eine spezielle Waage aufgestellt, neben der die ausgewählten Beamten standen, die auf das korrekte Auswiegen und die Abwicklung aufgepassten. Für das Auswiegen wurde eine Sondergebühr entrichtet. Ihre ganzen Streitigkeiten regelten die Kaufleute beim eigenen Handelsgericht. Für die Entwicklung gemeinsamer Regelwerke gründeten die Kaufleute, Industrielle und Seeleute eigene Handelsbündnisse.

Diese im Mittelalter entstandene Handwerkszünfte und Gilden könnte man als eine Art Vorläufer für die Handels-und Industriekammer bezeichnen.

Schon der Zar Peter der Große gründete innerhalb der Regierung ein Kommerzkollegium. In der Satzung sind die Unterstützung der Kaufleute, der Schutz gegen den Bedrängnis seitens des Zolls sowie Freihandel und Antimonopolschutz festgeschrieben worden. Da würden Sie doch auch zustimmen: das alles klingt ziemlich aktuell.

Somit ist der Erlass von Katharina der Ersten von Februar 1717 über die Vereinigung russischer Kaufleute und Industrieller nicht aus dem Nichts entstanden.

 – Dennoch kann man das, was auf hohen Erlass geschaffen wurde, nur bedingt als freie nichtstaatliche Vereinigung bezeichnenwas die Handelskammern eigentlich sind.

– Das stimmt, es hat sich damals so ergeben, dass die Strukturen, in denen sich die Kaufleute zusammengeschlossen haben, über eine lange Zeit nicht ein eingetragener Verein, sondern ein Teil des russischen Staates waren. Trotzdem haben die Kaufleute mehr Möglichkeiten für ihre eigene Interessenvertretung bekommen.

So sah beispielsweise die Satzung des Moskauer Börsenausschuss aus dem Jahr 1869 ein Recht für die Mitglieder vor, die Vorschläge zur Handels- und Industrieförderung zu besprechen und diese bei den staatlichen Strukturen einzureichen. Dazu muss man sagen, dass eine Börse damals nicht nur den eigentlichen Ort für die Handelsgeschäfte war, sondern auch eine Mitgliedergemeinschaft. Andersrum gesagt, im Gegensatz zu den westeuropäischen Börsen haben die Börsen in Russland als Mitgliedervereinigungen angefangen über die eigenen Ausschüsse bestimmte Funktionen der Handelskammer zu übernehmen.

– Und in Moskau hat diese Vereinigung ausgerechnet  in der Iljinka Straße* (*der heutige Sitz der russischen Handels- und Industriekammer) getagt.

– Ganz genau. Eine halbe Million Rubel hat der Bau des ersten Gebäudes der Börse gekostet, das 1839 fertigstellt wurde. Zwischen den beiden gewölbeartigen Eingängen der Börse gab es eine Terrasse, wo sich ursprünglich die Börsenmakler in der frischen Luft versammelten, die lange aus irgendeinem Grund nicht im Hauptsaal arbeiten wollten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwandelte sich die Iljinka Straße in die Hauptgeschäftstraße Moskaus. Der Platz vor der Börse wurde „Börsenplatz“ genannt. In der eigentlichen Börse wurde es langsam zu eng und von 1873 bis 1875 wurde sie umfassend umgebaut und erweitert. Heute ist hier der Sitz der russischen Handels- und Industriekammer.

Aber kommen wir doch zu unserer eigenen Geschichte zurück.

Anfang des 20. Jahrhunderts, wieder auf den Vorschlag der Machtinhaber, haben die russischen Börsenausschüsse angefangen, das Modell der Handels- und Industriekammer in Russland zu entwickeln. Man hat lange daran gearbeitet.

– WarumWegen der so genannten langsamen Mühlen der Bürokratie?

 – Nein, die Bürokratie hat damit nichts zu tun. Es ist insgesamt ein interessanter Fakt: mit Ausnahme des Moskauer Börsenausschusses haben sich alle anderen Börsenausschüsse, die wie ich bereits sagte, einige Aufgaben der Handelskammer ausgeführten, sowie auch die Selbstverwaltung der Kaufleute und die Räte der Manufakturen, die sich bis dahin immer für die Selbstverwaltung einsetzten, diesem Vorhaben der Etablierung lokaler Kammer auf einmal vehement widersetzt. Der Grund dafür war: sie wollten auf die Privilegien und repräsentative Funktionen nicht verzichten. Aber letztendlich ging der Prozess seinen gewohnten Gang. Bald wurden die russischen Handelskammern im Ausland gegründet: in Alexandrien  in 1902, in London in 1915 usw. Es entstanden einige bilaterale Kammern, zum Bespiel die Russisch-Britische Handelskammer in Sankt Petersburg (1908), die Russisch-Amerikanische Handelskammer in Moskau (1913). Man hatte auch einige nationale Kammern geschaffen, die hauptsächlich den Außenhandel fördern sollten.

Erst am 19. Oktober 1917 wurde eine Verordnung „Über die Handels-und Industriekammer“ verabschiedet, die die Grundsätze der körperschaftlichen Selbstverwaltung in Russland festlegte. Darin wurden die Hauptziele, Aufgaben und Kompetenzen der Handels- und Industriekammer in Russland definiert. Im neuen Gesetz wurden die Gründung der lokalen Kammern mit einer Pflichtmitgliedschaft aller Gewerbetätiger, das genaue Geschäftsgebiet innerhalb eines Gouvernements, die Verpflichtungen bei der Ausführung von staatlichen Aufgaben sowie die Entrichtung der Mitgliederbeiträge vorgesehen. Somit, wie ich bereits sagte, wird die Handelskammer unseres Landes 100 Jahre alt.

  – Das bedeutet Sie sind auf eine Art die Altersgenossen der Oktoberrevolution, über die aktuell viel geredet und geschrieben wird.

Ich bin mir nicht sicher, ob man hier unbedingt eine Symbolik finden kann. Das Geburtsjahr ist das gleiche, das stimmt schon. Allerdings war die Handelskammer nach der Oktoberrevolution gewiss keine Organisation der körperschaftlichen Selbstverwaltung mehr, weil das Unternehmertum im heutigen Sinne in der Sowjetunion nicht existierte, alle Betriebsmittel wurden nationalisiert. Dennoch hat sich die nach der Revolution gegründete sowjetische Handelskammer  (ab 1971 –  Handels- und Industriekammer der UdSSR) mit dem Status des eingetragenen Vereins an der wirtschaftlichen  Entwicklung des Landes beteiligt, die Beziehungen mit ausländischen Handels- und Wirtschaftsverbände, darunter mit internationalen Kammern, Export-Gesellschaften, Börsen usw., gefördert –  also letztendlich all die Aufgaben einer Handelskammer erfüllte, die im Rahmen eines sozialistischen Staates überhaupt möglich waren.

Dann im Jahr 1991, nach dem Fall des Sozialismus und während des Zerfalls der Sowjetunion, fand ein Gründungskongress der Handels-und Industriekammer der Russischen Föderation statt. Unter den Teilnehmern waren 19 regionale Kammern und dutzende Unternehmerverbände. Das geschah genau am 19. Oktober, 74 Jahre nach der Verabschiedung des Gesetzes über die Handels- und Industriekammer. So hat sich historisch gesehen ein Kreis geschlossen.

– Wie hat alles angefangen?

 – Nicht einfach. Ich habe unmittelbar den Aufbau der russischen Handelskammer mitgestaltet und kann dazu sagen: wie wir seinerzeit angefangen haben und das, was wir heute haben – der Unterschied ist wie Himmel und Erde. Das ganze Betriebsfundament haben wir von der sowjetischen Kammer erhalten, darunter das heutige Gebäude in der Iljinka Straße, wofür wir unseren Vorgängern herzlich danken. Aber in der Sowjetunion war die Kammer de facto ein Teil des Staates und hatte keine Befugnisse für die Gesetzgebung usw. Wir mussten von Null auf in der freien Marktwirtschaft anfangen. Die alte Volkswirtschaft lag in den Ruinen und die neue steckte noch in Kinderschuhen. Unter diesen Umständen mussten wir lernen die Interessen der Unternehmensgemeinschaft zu vertreten, aber eigentlich das Unternehmertum als Institution zu schaffen, was im Land überhaupt noch nicht existierte.

– Heute sind Sie die größte und führende Unternehmensvereinigung Russlands.

– Das stimmt genau. Heute umfasst das Netzwerk der Handelskammer 180 Kammern, über 50 Tausend Unternehmen und Organisationen verschiedener Rechtform, unter anderem die Kammermitglieder, über 200 nationale Verbände, Vereinigungen der Gewerbetreibender und 500 Unternehmensverbände in den Regionen sowie die Ausschüsse und Räte der Handelskammer in verschiedene Branchen und Geschäftszweigen.

Die Kammer vertritt und verteidigt die Interessen der Unternehmergemeinschaft gegenüber dem Staat. Allerdings unter einem wichtigen Vorbehalt – ja, wir haben uns dem Schutz und Interessenvertretung von kleinen, mittleren und großen Unternehmen verpflichtet, allerdings unter der Bedingung, dass diese den Interessen der Gesellschaft nicht widersprechen. In unseren Verantwortungsbereich fallen alle Wirtschaftszweige mit rein: Industrie, Binnen- und Außenhandel, Landwirtschaft, Finanzsektor, Dienstleistungen. Die meisten unserer Mitglieder sind Kleinunternehmen.

In Russland gibt es viele Herausforderungen, vor allem kleine und mittlere Unternehmen arbeiten teilweisen unter schwierigen Bedingungen. Aber das Unternehmertum in Russland entwickelt sich stetig weiter und das ist unsere größte Errungenschaft.

– Vielen Dank für das interessante Gespräch.

– Ich danke Ihnen.